Eigentlich will der Eigenbrötler Jaki Sonarson auf seinem entlegenen isländischen Hof Fokstad nur in Ruhe Neujahr feiern: Sogar seine eigenen Söhne hat er ausgeladen, um mit sich selbst ins Reine zu kommen, denn der Tod seiner Ehefrau Ann nagt noch nach Jahren an seinen Knochen. Doch es kommt anders: Die Live-Übertragung der dänischen Nationalhymne im Radio lässt die Toten des Ortes wieder auferstehen. Diese sehen in Sonarson keinen Geringeren als den Herrgott und erwarten von ihm das Jüngste Gericht.
Widerwillig fügt sich Sonarson seiner Rolle als Demiurg, und es wird ihm von den Wiederauferstandenen leicht gemacht: Jeder Wink, jede Geste von ihm wird als göttlich interpretiert, was mitunter zu tragikomischen Verstrickungen führt. In seiner Passivität wirkt Sonarson selbst geisterhaft, er ist selbst Teil dieses Danse Macabre, der sich auch im Romantitel widerspiegelt: Beim Vikivaki handelt es sich um einen isländischen Rundtanz mit Kehrreimen, der von der isländischen Kirche verboten, vom einfachen Volk aber geliebt und weitertradiert wurde.
Statt Sonarson reden hier zum Großteil die Verstorbenen, und sie erzählen von ihren Sünden und Träumen. Wie beim Vikivaki drehen sich die Lebensentwürfe der Wiederauferstandenen im Kreis, wie im Kehrreim tauchen, zum Teil über Generationen hinweg, bekannte Motive und Verhaltensmuster immer wieder auf.
Bei Gunnar Gunnarsson sind die Menschen, ähnlich wie bei Ibsen oder Strindberg, schon zu Lebzeiten Gespenster und nur Schatten ihrer eigenen Möglichkeiten: „Komme ich ihnen nahe, so verlieren sie für mich einen wesentlichen Teil ihres Daseinskerns (...). Nicht davon zu reden, wenn ich die Hände ausstrecke: ich ziehe sie leer zurück“, sinniert Sonarson einmal. Wie – und ob – Sonarson aus seiner Bredouille wieder rauskommt, soll an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden.
Der Berliner Verbrecher-Verlag macht den Roman „Vikivaki“ jetzt wieder zugänglich und erinnert damit an einen Autor, der in Deutschland fast vergessen ist: Gunnar Gunnarsson (1889 bis 1975). Wie im Roman steht jetzt Silvester vor der Tür, und damit das Ende eines Jahres, in dem Island Gastland der Frankfurter Buchmesse war und die isländische Literatur kurzzeitig in den Fokus des öffentlichen Interesses gehievt wurde. Höchste Zeit also, schnell noch einen Autor zu ehren, der die moderne isländische Literatur prägte wie sonst wohl nur Halldór Laxness.
Gunnar Gunnarsson, der auf Dänisch schrieb und bis 1939 in Dänemark wohnte, veröffentlichte „Vikivaki“ 1932. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits drei Mal für den Literaturnobelpreis nominiert. Vor allem in Dänemark und Deutschland wurde Gunnarsson gerne gelesen. Auch von den Nationalsozialisten, die Gunnarsson seit 1933 ins Deutsche Reich einluden. Gunnarsson, der einzige Isländer, der Adolf Hitler persönlich kennenlernte, sympathisierte wie der Norweger Knut Hamsun mit dem NS-Staat, im Unterschied zu Hamsun brach er aber 1940 mit dem Regime. 1955 wurde er ein viertes Mal für den Literaturnobelpreis nominiert. Erneut zog er den Kürzeren, dieses Mal gegen seinen Landsmann Halldór Laxness. In Island blieb sein Ruf davon und auch von seiner zeitweiligen politischen Umnachtung unberührt: In seinem ehemaligen Wohnhaus residiert heute der Isländische Schriftstellerverband.
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